Phidile
Ich war erst sechszehn Sommer
alt,
Unschuldig und nichts weiter,
Und kannte nichts als unsern Wald,
Als Blumen, Gras und Kräuter.
Da kam ein fremder Jüngling
her;
Ich hatt ihn nicht verschrieben,
Und wusste nicht wohin noch her;
Der kam und sprach von Lieben.
Er hatte schönes langes
Haar
Um seinen Nacken wehen;
Und einen Nacken, als der war,
Hab ich noch nie gesehen.
Sein Auge, himmelblau und
klar!
Schien freundlich zu flehen;
So blau und freundlich, als das war,
Hab ich noch nie gesehen.
Und sein Gesicht, wie Milch
und Blut!
Ich habs nie so gesehen;
Auch, was er sagte, war sehr gut,
Nur konnt ich's nicht verstehn.
Er ging mir allenthalben
nach,
Und drückte mir die Hände
Und sagte immer O und Ach,
Und küsste sie behende.
Ich sah ihn einmal freundlich
an
Und fragte, was er meinte;
Da fiel der junge schöne Mann
Mir um den Hals und weinte.
Das hatte niemand noch getan;
Doch war's mir nicht zuwider;
Und meine beiden Augen sahn
In meinen Busen nieder.
Ich sagt ihm nicht ein einzig
Wort,
Als ob ich's übel nähme;
Kein einzigs - er flohe fort;
Wenn er doch wieder käme!
Matthias Claudius
(1740 - 1815)